Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf

Freiheit f�r B�cher
by Ludwig Harig | Literature & Fiction | This book has not been rated.
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Journal Entry 1 by wingAndrea-Berlinwing from Berlin (irgendwo/somewhere), Berlin Germany on Monday, January 30, 2023
Ludwig Harig über sein Leben in der Nachkriegszeit

Jede Biographie ist einzigartig, und jedes Leben hat seinen eigenen Reichtum. Ganz unabhängig davon, wie es im einzelnen verlaufen ist. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass jedes Leben auch ein einzigartiges Buch ergibt. Ob die literarische Rekonstruktion der eigenen Biographie gelingt, ist vielmehr ganz unabhängig davon, wie diese verlaufen und was in ihr passiert ist. Eine abwechslungsreiche Vita garantiert noch keinen abwechslungsreichen Text, ebensowenig wie ein intelligenter Erzähler die Garantie ist für eine intelligente Erzählung. Über die Qualität des eigenen Lebens kann am Ende nur der entscheiden, dem dieses Leben gehört. Über die Qualität einer literarischen Lebensdarstellung aber entscheiden Sprache und Stil.

Dies gilt auch für Ludwig Harigs dritten Teil seiner autobiographischen Prosa, der auf die Bände «Ordnung ist das ganze Leben» (1986) und «Weh dem, der aus der Reihe tanzt» (1990) folgt: «Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf». Waren die ersten beiden Bände der Person und dem Leben des Vaters sowie der eigenen Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus gewidmet, so erzählt Harig nun vom Aufbruch in die neugewonnene Freiheit nach 1945.

«Die Nacht auf den 6. Mai 1945 war sternklar und frostig. Bei Sonnenaufgang zitterte ich vor Kälte. Als ich die Augen aufschlug, sah ich ein halbes Dutzend Schnecken vor meiner Nase herumkriechen: kalkfarbene, gesprenkelte Schnecken, die sich im taufeuchten Gras tummelten.»

So beginnt Harig seinen «Roman» genannten Bericht. Es ist ein vielversprechender Auftakt, nicht nur für den ehemals überzeugten Hitlerjungen Harig, beschreibt er doch den Morgen des Tages, «an dem mein zweites Leben beginnt». Vielversprechend auch für einen Text, der sich hier ganz auf die sinnliche Vergegenwärtigung der vergangenen Zeit zu konzentrieren scheint. Doch noch ehe der Erzähler, der mit einem Freund das Kriegsende im Freien erlebt, ganz wach ist, verlässt er auch schon den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung und räsoniert darüber,

«wie es kommt, dass ich zum erstenmal in meinem Leben Zeit und Geduld habe, so genau die Gestalt einer Schnecke anzuschauen – und nicht aufspringe, Kommandos zu befolgen, mich in Reih und Glied zu stellen, anzutreten in Marschkolonne?»

Wie es kommt? Eine – wenn auch keine zureichende – Erklärung liefert das historische Geschehen. Es sind die alliierten Flieger am Himmel, die dem Erzähler seine Sinne gleichsam zurückerstatten. Doch dass er sich ihrer zu bedienen weiss und dass er, statt weiterhin anfällig zu bleiben für «Ordnungswahn» und «verführerische Parolen», sich zu einem aufgeklärten Menschen und Künstler entwickelt, kann nicht allein historisch erklärt und historisch begründet werden. Dazu bedarf es der erinnernden Erzählung, und Harig nutzt sie denn auch, um seine Geschichte als eine Bildungsgeschichte zu entwerfen, die den ehemaligen «Jungmann einer nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt» hinführt zu Lessings «Nathan dem Weisen», zu Jean Pauls «Friedenspredigt an Deutschland», zu Rousseaus «Träumereien eines einsamen Spaziergängers», zu Lichtenberg und Heinrich Heine und auch zu Oscar Wilde.

Das freilich hätte man sich so oder ähnlich denken können, liesse sich kritisch einwenden. So oder ähnlich verlaufen eben literarische Bildungsprozesse. Und in der Tat sind auch viele der weiteren Sozialisationserfahrungen und -probleme des jungen Mannes Harig überaus typisch für junge Menschen seiner Zeit und seines Schlages: da ist die Tanzstunde und das damit verbundene Kleiderproblem, da ist die Liebe und die erste Urlaubsfahrt in den Süden, da ist James Dean und Rififi, da ist die Begeisterung für den Jazz und da ist «Bill Haleys Rock Around the Clock». Darüber hinaus scheut sich der Autor nicht, diese so prototypischen und gewissermassen dem Lexikon der 50er Jahre entnommenen Erinnerungen mit Sätzen zu kommentieren wie «Die Saarbrücker Jugendlichen (. . .) waren ausser Rand und Band.»

Überhaupt neigt der Autor dazu, seinen persönlichen Erfahrungen blind zu vertrauen, auch wenn sie ihm längst entrissen und schlechtes Allgemeingut geworden sind. Dass man etwas wirklich erlebt hat, bürgt noch lange nicht für dessen Authentizität. «Unser Seminardirektor hiess Wilhelm Meister», schreibt Harig, und sicherlich stimmt es, aber es ist eben doch auch ziemlich falsch, und zur literarischen Ökonomie gehört es auch, gewisse Pointen, die das Leben liefert, nicht zu nutzen.

Ebenso falsch, weil durch und durch verbraucht, sind viele sprachliche Wendungen, deren sich der Autor bedient. Die Lokomotive «stampft», die Räder «rattern», die Aktentasche ist «speckig», die alte Mutter «rührig und rüstig». Man fährt nicht nach St-Tropez, sondern «kutschiert» dorthin, es wird nicht gelesen, sondern «geschmökert», Lektüre ist «Lesefutter». Auch irritiert es, wenn der Autor von «Fisimatenten» und «Sperenzchen» redet, wenn es ihm «wie Schuppen von den Augen fällt», wenn er «Bauklötze staunt», die letzten Francs «zusammenkratzt» und «schlemmt» wie ein «Scheunendrescher». Dass Harig sich auf diesen jovialen und aufgeräumten Ton einlässt, ist auch deshalb überraschend, weil gerade er doch nicht zu den literarischen Stammtischrednern und Schulterklopfern gehört, sondern ein explizit Moderner ist – oder zumindest war. Ein Sprachspieler und Experimenteller, ein reflektierender und sprachkritischer Kopf, der sich Raymond Queneau ebenso verbunden fühlte wie der sogenannten «Stuttgarter Schule» um Gomringer, Heissenbüttel, Mon, Döhl (u. a.) und ihrem Chefdenker Max Bense. Letzterer spielt denn auch eine bedeutsame, ja geradezu überragende Rolle in Harigs Erinnerungen. Wobei Bense als ein Mensch dargestellt wird, der jederzeit und immerzu und auch gänzlich ungefragt über Literatur doziert, der immer ein Zitat, ein Urteil, eine Belehrung parat hat.

Dass dies ziemlich anstrengend gewesen sein muss, können wir uns denken, erfahren es aber nicht. Harig hat sich das Kapitel «Wie ich einmal Max Bense nicht mehr ertragen habe» versagt. Dazu ist er zu anständig, Verrat am toten Freund ist Harigs Sache nicht. Doch der Anstand ist das eine, und die Literatur das andere. Letztere hat ihre eigene Moral. Zu der gehört zuweilen auch der böse Blick: auf sich und andere. Daran aber fehlt es in Harigs Buch, nicht nur in Sachen Bense. Harig will vor allem versöhnlich sein. Mit sich, seinen Nächsten, der Welt und der Zeit – zumindest der nach 1945. Doch die versöhnliche Haltung schadet, so betrüblich das ist, dem Stil.

Hans Ulrich Treichel

Journal Entry 2 by wingAndrea-Berlinwing at BücherboXX am Gleis 17 in Grunewald, Berlin Germany on Monday, January 30, 2023

Released 1 yr ago (2/4/2023 UTC) at BücherboXX am Gleis 17 in Grunewald, Berlin Germany

WILD RELEASE NOTES:

Die BücherboXX am Gleis17 steht am S-Bahnhof Grunewald, Ausgang Auerbachstraße.

Die nachhaltige BücherboXX am Gleis 17 hat ein Regalfach mit einem thematischen Bezug zum gegenüberliegenden Mahnmal, das an die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger in den Jahren 1941 bis 1945 erinnert. Themen sind zum Beispiel: Jüdisches Leben, Holocaust, Rassismus, Nationalsozialismus, Krieg und Widerstand.

Mit einer Erprobungs-BücherboXX wurde dieser neue Ansatz des Tauschens getestet, bevor die neu gestaltete BücherboXX zum 9. November 2012 aufgestellt wurde. Am 17. November folgte die feierliche Einweihung.

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