Inselzauber

by Gabriella Engelmann | Entertainment | This book has not been rated.
ISBN: 9783959731157 Global Overview for this book
Registered by DjCraven of Rottweil, Baden-Württemberg Germany on 9/11/2020
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Journal Entry 1 by DjCraven from Rottweil, Baden-Württemberg Germany on Friday, September 11, 2020
Dieser Roman spielt auf einer Insel, mit der mich persönlich
einiges verbindet und die ich immer wieder gern besuche.
Lassen auch Sie sich verzaubern und an Orte entführen, die
mir viel bedeuten oder nur in meiner Phantasie existieren. Ich
wünsche Ihnen viel Vergnügen beim literarischen Rundgang
über die »Königin der Nordsee«.


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1. Kapitel
Gerade noch geschafft, den Zug zu erwischen, doch Sie haben noch kein Ticket? Dann begeben Sie sich bitte umgehend auf die Suche nach einem Zugbegleiter, um sich eine
Fahrkarte zu kaufen. Sollten Sie dies nicht tun, kann das als
versuchtes Schwarzfahren gewertet werden«, reißt mich die
Stimme der Zugansage der NOB, der Nord-Ostsee-Bahn,
brutal aus meinen Gedanken.
Nein, ich fühle mich von der barschen Aufforderung
nicht angesprochen, denn meine Reise ist von längerer
Hand geplant, weshalb ich nicht nur im Besitz eines gültigen Schleswig-Holstein-Tickets bin (allerdings ohne
Rückfahrkarte), sondern auch einen Sitzplatz reserviert
habe.
Denn es steht seit einem halben Jahr fest, dass ich heute,
kurz vor Weihnachten, zu meiner Tante Bea nach Sylt reisen
werde, um sie für drei Monate in ihrer Buchhandlung zu
vertreten. Was danach mit mir passiert – keine Ahnung! Dafür weiß ich seit genau zwei Wochen, dass Stefan, der Mann,
den ich heiraten wollte, jetzt eine andere Frau liebt, die ein
Kind von ihm erwartet. Melanie, Sprechstundenhilfe in
Stefans kardiologischer Praxis und der Grund dafür, dass ich
gerade versuche, ein neues Leben zu beginnen. Abseits von
Stefan, abseits von Hamburg kehre ich nun zurück zu meinen Sylter Wurzeln.
Doch so traurig mich diese Fahrt ins Ungewisse auch
stimmt, so sehr muss ich beim Gedanken an meine Tante
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Bea lächeln, weil ich mich wahnsinnig auf sie freue. Ich habe
sie lange, viel zu lange, nicht gesehen und weiß, dass wir
beide einiges nachzuholen haben.
Während ich die Landschaft betrachte, die an mir vorbeigleitet, denke ich ein wenig ängstlich, aber auch neugierig
an die Zeit, die nun vor mir liegt. Eine Zeit der Entscheidungen, das spüre ich deutlich.
Vor meinem inneren Auge lasse ich Revue passieren, was
ich in Hamburg zurückgelassen habe: eine Liebe, ein Heim,
einen festen Job in einem renommierten Hotel. Ein überschaubares Leben. Eines, das mir Sicherheit geboten hat
und nun vorbei ist.
Aller Trauer zum Trotz freue ich mich darauf, meiner
Tante den langgehegten Traum zu ermöglichen, mit ihrer
besten Freundin Veronika, genannt Vero, auf einem Kreuzfahrtschiff auf Weltreise zu gehen.
Nachdenklich betrachte ich die unzähligen Windräder,
welche die Bahnstrecke säumen. Ihre Arme bohren sich in
den Winterhimmel und drehen sich so synchron, als wären
sie Teil einer Ballettchoreographie. Kurz schießt mir ein
Bild aus Kindertagen durch den Kopf: ich, die siebenjährige Larissa, im roséfarbenen Tüllröckchen, wie ich aufgeregt die Hand meines Vaters halte, eingehüllt in meinen
Wintermantel, auf dem Weg zur Ballettstunde. Eine Erinnerung an glückliche Kindertage, als meine Eltern noch
lebten.
Bevor ein Autounfall drei Jahre später mit einem Schlag
ihrem jungen Leben ein viel zu frühes und gewaltsames
Ende setzte.
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Nun kehre ich zurück auf die Insel Sylt, zu meiner Tante,
die mich als Zehnjährige zu sich genommen und mich großgezogen hat.
Zusammen mit ihrem Mann Knut, einem Seefahrer, der
naturgemäß die meiste Zeit seines Lebens auf dem Meer
verbracht hat. Die beiden wohnten in einem alten Kapitänshaus, das mir damals Sicherheit und Geborgenheit gab,
ebenso wie die Arme meiner Tante, die mich umschlungen
hielten, als meine Kinderwelt in Trümmern lag.
»In wenigen Minuten erreichen wir Westerland Hauptbahnhof«, ertönt erneut die Zugansage, und mein Herz beginnt
schneller zu schlagen. Rasch sammle ich meine Gepäckstücke zusammen, die ich um mich herum verteilt habe, denn
für diesen langen Aufenthalt auf Sylt ist es mit einer kleinen
Tasche wahrlich nicht getan.
Nach dem bezaubernden Anblick der schier endlos weiten norddeutschen Landschaft, den die Überfahrt auf dem
Hindenburgdamm geboten hat, versetzt mir die Stadt
Westerland nahezu einen Schock. Die Betonbauten und Hochhäuser stehen in absolutem Kontrast zu den Deichlämmern,
die ihre bunt bemalten Hintern in die Luft recken und in
harmonischem Einklang nebeneinander grasen, und ebenso
wenig zum Bild des gurgelnden Meeres, das seine grauen
Schaumkronen in die Ausläufer um den Bahndamm herum
spült.
Die Kälte des Ferienorts steht auch in völligem Kontrast
zu dem heimelig wirkenden Turm der Keitumer Kirche, der
alle Sylt-Besucher willkommen heißt und sie aufzufordern
scheint, das Gotteshaus in aller Stille aufzusuchen, um der
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umtriebigen Welt den Rücken zu kehren und ein wenig
durchzuatmen. Genau das werde ich tun. Nach den Turbulenzen der letzten Wochen kann ich wahrlich Ruhe gebrauchen, denke ich, während der Zug auf dem Bahnsteig einfährt und ich Bea und Veronika winken sehe.
Ein Bild, wie Pat und Patachon: Bea ist groß und hager
und trägt ihre grauen Haare kurz. Veronika hingegen ist
klein, leicht untersetzt und hat ihre silberblonden Haare zu
einem Dutt hochgesteckt.
Dass es so eine Frisur überhaupt noch gibt, überlege ich
schmunzelnd, während ich meine Koffer aus der Tür ins
Freie wuchte. Ein älterer Herr ist mir freundlicherweise behilflich und wechselt dabei kurz einen Blick mit Bea, während Veronika eine rote Rose schwenkt. Ja, meine Tante hat
schon immer eine große Wirkung auf Männer gehabt, obwohl sie auf den ersten Blick kein femininer Typ ist und
auch im Alter noch viel Unabhängigkeit ausstrahlt. Viel zu
viel für den Geschmack der meisten Herren.
Veronika hingegen ist ein absolutes Weibchen, eine Herzensgute, im Gegensatz zu Bea, die zunächst erst einmal
skeptisch in die Welt schaut. Wenn ich meine Tante so sehe,
mit ihrer schwarzen Lederjacke, die langen Beine in eine
Cargohose gehüllt, wundere ich mich wieder einmal, wie es
eine solche Frau überhaupt auf diese Insel verschlagen
konnte, noch dazu an der Seite eines Seemanns, der auf den
ersten Blick so gar nichts mit ihr gemeinsam hat.
»Moin, min Deern«, unterbricht Veronika meine Gedanken und zieht mich an ihre Brust, während die Rose die ersten Blätter verliert.
»Vero, schön dich zu sehen!«, rufe ich und drücke ihr
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links und rechts herzhafte Küsse auf ihre mittlerweile leicht
erschlafften Wangen, die sich zart und weich anfühlen.
»Hattest du denn eine gute Reise, Kind?«, fragt Veronika
und schnappt sich sofort den schwersten meiner Koffer. Sie
ist es gewohnt, zuzupacken, so kennt sie es von dem Hof,
auf dem sie lebt.
»Lissy«, meldet sich nun endlich auch Bea zu Wort, die
ihrer Freundin energisch den Koffer aus der Hand nimmt
und ihn auf einen Gepäckwagen wuchtet.
Rasch werfe ich die restlichen Sachen hinterher und stürze
mich in die Arme meiner Tante. Auch wenn sie rein physisch
so gar nichts Kuscheliges an sich hat, fühle ich mich dennoch
in ihrer Nähe so geborgen wie bei sonst niemandem auf der
Welt. Selbst bei Stefan habe ich nicht so viel Wärme und Behaglichkeit empfunden. Ihr Parfüm – sie trägt seit ich sie
kenne dasselbe – umhüllt mich wie ein Seidentuch, und ich
fühle mich sofort zu Hause. Zu Hause bei ihr und auf dieser
Insel, die zwar lange meine Heimat war, die ich aber in den
letzten Jahren fast komplett aus den Augen verloren habe.
»Gut siehst du aus«, plappert Veronika drauflos, während
wir gemeinsam zum Parkplatz laufen.
Bea und ich gehen Arm in Arm und lösen uns erst voneinander, als meine Tante hinter dem Steuer Platz nimmt, um
ihren Wagen – einen alten, wackeligen Jeep – zu starten. Ich
öffne die hintere Tür und werde in Sekundenschnelle von
Timo abgeschlabbert. Beas Berner Sennhund erkennt mich
auch nach so langer Zeit wieder und ist offensichtlich begeistert, mich zu sehen.
»Hallo, Süßer«, begrüße ich ihn, streichle ihm über den
Kopf und stecke meine Nase in seinen Hundepelz.
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Während der Fahrt nach Keitum betrachte ich schweigend
die Landschaft und lausche den Worten der beiden Freundinnen, die vorne im Wagen plaudern. Genauer gesagt plaudert vor allem Veronika. Bea hört ihr aufmerksam zu und
wirft ab und zu einen Blick in den Rückspiegel, um mit mir
Blickkontakt aufzunehmen. Nachdem wir die hässlichen
Neubauten Westerlands hinter uns gelassen haben, fahren
wir an Tinnum vorbei Richtung Keitum.
Wie jedes Mal, wenn ich auf der Insel bin, amüsiere ich
mich über die Namen, die, wie es scheint, allesamt auf »um«
enden. Natürlich ist das nicht wirklich so, denn Westerland,
Kampen, List, Wenningstedt oder Braderup machen ja die
andere Hälfte der Orte aus, aber ich werde das Gefühl nicht
los, dass das wahre Sylt in den Dörfern stattfindet, die auf
»um« enden.
Schon allein diese Silbe klingt irgendwie kuscheliger als das
ruppige »rup« von Braderup, oder als das scheinbar listige
»List«. Morsum, Archsum, Hörnum, Keitum, Rantum – das
sind die Orte, die ich mag, zu denen ich mich hingezogen
fühle.
Während wir uns Keitum nähern, sehe ich Pferde, Kühe
und Schafe auf den Weiden, beschienen von der kalten Dezembersonne, die alles in klares, gleißendes Licht taucht und
die Konturen schärft.
Dann – ganz allmählich – vollzieht sich eine Wandlung:
Die Weiden werden weniger, die freien Flächen verschwinden, und in meinem Blickfeld tauchen die ersten typischen
Friesenhäuser auf, für die ich diesen Ort so liebe.
An dieser Stelle ist Sylt besonders lieblich, besonders
hübsch und beinahe puppenhaft.
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»Timo, Lissy raus mit euch!«, ruft Bea, scheucht ihren riesigen Hund von der Rückbank, reißt die Wagentür neben
mir auf und lässt keinen Zweifel daran, dass die Zeit des
Träumens und Betrachtens vorbei ist, denn jetzt sind wir da.
Eine halbe Stunde später sitzen wir vor dampfendem Tee
und Friesenwaffeln, bestäubt mit jeder Menge Puderzucker,
der wie Schnee auf dem Gebäck liegt, heißen Kirschen und
Vanilleeis.
»Autsch«, entfährt es mir, während mich ein gemeiner
Schmerz durchzuckt. Heiß und kalt ist eine Kombination,
die ich überhaupt nicht vertrage.
Bei diesem Vergleich fällt mir umgehend Stefan ein, der
mich am Bahnhof Altona in Hamburg ziemlich unterkühlt
verabschiedet hat. Genau wie ich ihn auch.
Wie aufs Stichwort fragt Veronika, von der die leckeren
Waffeln sind, im nächsten Moment: »Wie geht’s eigentlich
Stefan? Wann heiratet ihr denn nun?«, und sieht mich erwartungsvoll an.
Vermutlich bastelt sie im Geiste bereits an der Menüfolge
und der Hochzeitstorte, schließlich ist es schon eine Weile
her, dass sie dergleichen für ihre Kinder tun konnte, und
nun fühlt sie sich wohl nicht ausgelastet. So gern, wie sie die
Gastgeberin spielt.
Vero ist nun mal ein echtes Familientier. Seit nunmehr
fast vierzig Jahren ist sie mit ihrem Mann Hinrich verheiratet, einem eher wortkargen Bauern – und das allem Anschein nach glücklich, auch wenn ich nicht viel über diese
Ehe weiß. Die beiden haben sich in der Schule kennenund liebengelernt. Mit zwanzig bekam Vero ihre Tochter
Friederike, auf die später die Zwillinge Lars und Ole folgten.
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Offensichtlich hat Bea ihre Freundin noch nicht über den
neuesten Stand der Dinge informiert, was meine Familienplanung betrifft.
»Vero, lass mal«, bekomme ich Schützenhilfe von meiner
Tante, die an ihrem Tee nippt und die Augen rollt. »Als ob es
für Lissy nichts Wichtigeres gäbe, als diesen Stefan zu heiraten.«
Veronika sieht mich kurz irritiert an, blickt dann unsicher
zu Bea, und ich fühle mich bemüßigt, die Freundin meiner
Tante selbst aufzuklären.
»Ich werde diesen Stefan wohl nicht heiraten, denn er
wird in vier Monaten Vater.«
An dieser Stelle wird Vero noch unruhiger, und ich sehe
kurz die Hoffnung in ihren Augen aufglimmen, ich sei
schwanger und es gäbe bald wieder ein Baby im Haus.
»Die glückliche Mutter bin allerdings nicht ich«, fahre ich
fort, während sich Veros Gesichtszüge in Sekundenschnelle
enttäuscht verfinstern, »sondern eine gewisse Melanie Immendorf. Melanie ist Sprechstundenhilfe in Stefans Praxis,
zwanzig, blond, vollbusig und meines Wissens ein bisschen
doof. Allerdings nicht zu doof, um sich auf diesem Wege
einen gut situierten Kardiologen zu angeln, der die Praxis, in
der sie arbeitet, unter anderem meiner finanziellen Unterstützung verdankt«, vervollständige ich den Bericht über
meine private Situation. Dabei versuche ich zu ignorieren,
wie sich mein Herz verkrampft.
Das alles tut immer noch weh – viel zu weh!
Ich fühle, wie mir Tränen in die Augen schießen, und bin
dankbar, dass Timo mir in diesem Moment die Hand leckt,
vermutlich als verspätetes Zeichen seines Dankes für die Leckerli, die ich ihm mitgebracht habe.
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»Oh, so ist das also«, murmelt Veronika bedrückt und
schafft es kaum, mich anzusehen. »Das tut mir leid. Ihr wart
so ein schönes Paar.« Damit ist dann auch alles gesagt.
Wir waren ein schönes Paar, und nun sind wir es eben
nicht mehr.
»Ich gehe dann mal nach oben, um meine Sachen auszupacken«, sage ich und stelle mein Geschirr in die Spüle.
Wie gemütlich diese alte Friesenküche ist. Alles ist wunderhübsch gekachelt, in traditionellem Blau-Weiß, mit Motiven der hiesigen Region. Wie sehr ich das alles genießen
könnte, wenn ich mich nur besser fühlte.
»Komm einfach runter, wenn dir nach Gesellschaft ist.
Ansonsten gibt es um acht Uhr Abendessen«, ruft Bea mir
nach, während ich die knarrende Treppe nach oben gehe
und Timo mir hinterhertrottet.
In meinem alten Zimmer angekommen, werfe ich mich
überwältigt von Schmerz aufs Bett. Dabei versinke ich fast
in den flauschigen Daunen und atme den Duft von Sandelholz ein, der sich im Stoff der Tagesdecke verfangen hat.
Timo legt sich artig auf den Bettvorleger, nimmt den Kopf
zwischen die Pfoten und sieht mich, wie ich finde, besorgt
an.
Dann kann ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Tränen, die ich in Hamburg nicht hatte vergießen können, weil
ich nicht wusste, wo ich dies ungestört hätte tun sollen,
ohne in dieser Wohnung zu sein, die nun nicht länger mein
Zuhause ist. Die Wohnung, in der nun wohl bald Melanie
Einzug halten und triumphierend ihren schwangeren Bauch
vor sich hertragen wird. Vermutlich verteilt sie bereits überall Ultraschallaufnahmen. Eine Frau wie sie pinnt sicher das
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erste Bild ihres Kindes an die Kühlschranktür, stolz auf das,
was die Natur da in ihr hervorbringt, weil sie sonst nichts
anderes hat, worauf sie blicken kann.
Aber wie ist das mit mir? Was kann ich eigentlich?, frage
ich mich plötzlich und rolle mich in Embryohaltung auf der
Decke zusammen. Wie war es eigentlich bislang, mein Leben, auf das ich vor kurzem noch so stolz war? War ich nicht
total auf Stefan fixiert? Habe ich mich nicht komplett über
IHN definiert? SEINE Pläne unterstützt? Sie sogar FINANZIERT? Mich mit SEINEN Interessen identifiziert? Mit
SEINEN Freunden Umgang gepflegt? Nichts EIGENES
gehabt, außer einem Job, der mir keinen Spaß macht und
mich auch nicht erfüllt?
Ich habe ja noch nicht einmal eine beste Freundin, denke
ich nun und schnüffle in mein Taschentuch, das ich, seit es
Melanie gibt, immer griffbereit bei mir trage. Wie sehr ich
Bea und Veronika beneide! Auch wenn die beiden auf den
ersten Blick eine etwas skurrile Kombination sind – und
zwar nicht nur äußerlich. Bea ist die Kluge, die Strenge, die
alles Hinterfragende. Vero die ewig Gutgelaunte, Weiche,
Warmherzige, manchmal aber auch ein wenig einfach Gestrickte. Sie weiß nicht viel von der Welt. Ihr Kosmos ist
diese Insel, ihre Familie, der Hof. Und Bea. Vero ist das totale Gegenteil zu meiner mutigen, starken und abenteuerlustigen Tante: übervorsichtig, ängstlich, stets auf Sicherheit
bedacht.
Mir ist überhaupt nicht klar, wie Bea es geschafft hat, ihre
Freundin, die außer Kiel und Hamburg nichts weiter von
Deutschland, geschweige denn von Europa gesehen hat, zu
überreden, eine Weltreise mit ihr zu unternehmen. Das
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muss ich Bea unbedingt fragen, nehme ich mir fest vor,
während mich eine Welle des Selbstmitleids unerbittlich
überrollt.
Wie schön wäre es, jetzt eine gute Freundin zu haben,
denke ich. Denn Bea und Vero sind in ein paar Tagen auf
hoher See und kommen erst in drei Monaten wieder. Wir
können kaum telefonieren, allerhöchstens mal mailen oder
uns mit ein paar knappen SMS auf den neuesten Informationsstand bringen. Wer wird mich trösten, wenn ich
nachts weinend im Bett liege, weil es mir vor Sehnsucht
nach Stefan fast das Herz zerreißt und ich die Bilder von
ihm und Melanie nicht aus dem Kopf bekomme?
Wie aufs Stichwort leckt Timo mir mit seiner rauhen
Hundezunge die Hand, die über den Bettrand baumelt.
Hund müsste man sein, überlege ich. Tiere denken angeblich nicht und haben auch keine Seele. Obwohl ich das gar
nicht glauben kann … Wenn man Timo so betrachtet, in
seine großen, dunkelbraunen Hundeaugen schaut und er
den Kopf schief legt, sieht es immer so aus, als verstehe er
einen. Sobald es mir wieder bessergeht, werde ich in Erfahrung bringen, wer so einen Mist über Tiere verbreitet, und
gegen denjenigen vorgehen. Jawohl!
Bei dem Gedanken daran, wie ich womöglich anlässlich
eines Symposiums eine flammende Rede halte, die beweisen
soll, dass die Tierforschung irrt und nur ich, Larissa Wagner,
die einzig Wissende bin, muss ich schon wieder ein wenig
grinsen. Denn erstens bin ich nicht der Typ, der kluge Reden schwingt, schon gar nicht vor vielen Zuschauern, und
zweitens wäre ich viel zu faul, um mich ernsthaft in die Materie zu vertiefen. Diese partielle Faulheit hat mich auch eine
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Ausbildung als Hotelkauffrau beginnen lassen, anstatt nach
dem Abitur zu studieren.
Tja, fasse ich mich nun sozusagen an die eigene Nase –
was unterscheidet dich an dieser Stelle eigentlich von Melanie?
Die ist immerhin schwanger geworden, und das ist doch
schon mal was. Zumindest wenn man zu dem Typ Frau gehört, deren Ziel es ist, eines Tages Ehefrau und Mutter zu
sein. Melanie hatte wenigstens ein Ziel – ich dagegen habe
momentan keines, so wie es aussieht.
Über diesem traurigen Gedanken muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich wieder auf die Uhr sehe, ist es 19.50
Uhr und stockdunkel im Zimmer. Nur der Mond lugt hinter einer kahlen Baumkrone hervor und wirft einen schmalen Lichtstreifen in den Raum. Fröstelnd ziehe ich mir die
Decke um die Schultern und überlege, ob ich nach unten
gehen soll. Timo ist nicht mehr da, sicher war es ihm zu
langweilig, mir beim Schlafen zuzusehen. Während ich noch
auf dem Rücken liege und an die dunkle Decke starre, höre
ich auf einmal die Treppe knarren und schnuppere den Duft
von Beas Parfüm, der ihr stets vorauseilt.
»Lissy, Schätzchen. Hast du Hunger? Magst du mit nach
unten kommen?«, fragt meine Tante und lugt vorsichtig
durch den Türspalt.
So viel kann ich trotz der Dunkelheit erkennen.
»Komme gleich«, antworte ich und krabble aus dem Bett,
während Bea schon wieder auf dem Weg nach unten ist.
Kindheitserinnerungen werden wach, genau so habe ich
mich als Zehnjährige gefühlt, als sie mich bei sich aufgenommen hat. Ein wenig ermattet vom Nachmittagsschlaf
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begebe ich mich ins Badezimmer, um mir Hände und Gesicht zu waschen. Ein Blick in den Spiegel sagt mir, dass
man mir meinen Kummer ansieht.
Ich bin blass, trage einen enttäuschten Zug um den Mund
und habe nur wenig mit der attraktiven Endzwanzigerin gemeinsam, die noch bis vor kurzem mit ihren braunen Augen
neugierig und zuversichtlich in die Welt sah. Verärgert bemerke ich, dass meine Haare sich im Schlaf verknotet haben, und flechte sie zu einem Zopf. Stefan hat meine langen
nussbraunen Locken immer geliebt und sie mir oft gekämmt, eine zärtliche Geste, die ich vermissen werde. In
Zukunft werde ich mich wohl selbst kämmen müssen.
Aus der Küche zieht Essensduft zu mir hoch, und ich
merke, dass ich Hunger habe. Was es wohl gibt?, frage ich
mich, während ich ein paar dicke Socken anziehe und eine
Jacke aus dem Koffer hole. Ich bin gespannt, denn Bea ist,
das muss man einfach so klar sagen, eine absolute Niete als
Köchin. Sie isst nicht besonders gern – ganz im Gegensatz
zu mir – und betrachtet Küchenarbeit ausschließlich als lästig und unnütz. Sie verbringt ihre Zeit lieber mit Büchern
oder macht mit Timo lange Spaziergänge am Meer.
Als Kind wäre ich vermutlich verhungert oder elendiglich
an Skorbut zugrunde gegangen, wäre da nicht Vero gewesen, bei der ich entweder zum Essen Dauergast war, oder die
uns mit Selbstgekochtem versorgt hatte, das Bea nur noch
aufzuwärmen brauchte. Doch selbst das Aufwärmen konnte
bei meiner Tante zum Abenteuer geraten, insbesondere
wenn sie – etwa völlig versunken in ein Buch – alles um sich
herum vergaß und es noch nicht einmal bemerkte, wenn
dichte Rauchschwaden durch die Küche zogen.
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Ich persönlich neige ja zu der Ansicht, dass Knut deswegen so gern lange auf See war, weil er dort vor seiner Frau
und ihren zweifelhaften Kochkünsten fliehen konnte.
Beim Gedanken an meinen Onkel muss ich seufzen. Sein
Tod ist nun auch schon fünf Jahre her. Ob Bea wohl noch
immer um ihn trauert?
»Hmm, das duftet ja lecker«, sage ich, eher, um mir selbst
Mut zuzusprechen, als zu Bea, und luge vorsichtig in Richtung Herd.
Doch dort scheint ausnahmsweise alles im grünen Bereich zu sein – merkwürdig! Eine dicke, sämig aussehende
Krabbensuppe blubbert gemütlich vor sich hin, und im
Ofen schmort eine Lammkeule. Der Tisch ist hübsch gedeckt, Rotwein schimmert in einer Karaffe, und als musikalische Untermalung laufen Vivaldis »Vier Jahreszeiten«.
Idylle pur.
»Bea, was ist passiert?«, frage ich überrascht, als meine
Tante, in eine Küchenschürze gewandet (allmählich mache
ich mir ernsthaft Sorgen!), im Türrahmen auftaucht.
Bewaffnet mit einem Paar Topflappen, die ich als Kind
gehäkelt und ihr zu Weihnachten geschenkt habe, nimmt
sie den Schmortopf aus dem Ofen.
»Da staunst du, was?«, sagt Bea lachend, stellt den Bräter
auf den Herd und füllt die Krabbensuppe in Schüsseln.
Während ich die heiße Suppe genieße und sich eine wohlige Wärme in meinem Körper ausbreitet, erzählt meine
Tante begeistert, dass Veronika sie zu einem Kochkurs überredet hat. »›So kann es nicht weitergehen‹, hat Vero zu mir
gesagt, und irgendwann fand ich, dass sie recht hat. Es ist
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zwar viel einfacher, sich immerfort darauf zu berufen, dass
man für etwas zu untalentiert ist, als sich mal daranzumachen und sich selbst das Gegenteil zu beweisen. Aber was
hat das Leben für einen Sinn, wenn man sich nicht weiterentwickelt? Man muss doch immer mal wieder etwas dazulernen, damit man nicht komplett einrostet und verblödet,
oder wie siehst du das?«, fragt sie mich mit einem Hauch
von Provokation im Blick, während ich beeindruckt meine
Suppe löffle.
»Aber du bildest dich doch ständig weiter«, protestiere ich
und trinke einen Schluck Wein. »Du liest andauernd. Und
wenn du nicht liest, bist du in deinem Literaturzirkel oder
siehst dir irgendwelche Dokumentationen oder Theaterstücke auf arte oder 3sat an. Du fährst nach Hamburg zu Konzerten, du besuchst Vorträge. Wo ist denn da auch nur die
kleinste Gefahr einzurosten?«
»Das ist sicher alles richtig. Aber wenn du genau hinsiehst, dann merkst du, dass alles, was du gerade geschildert
hast, keine echte Herausforderung für mich ist. Weil es mir
leichtfällt. Weil ich zeit meines Lebens nichts anderes getan
habe. Ich muss mich nicht anstrengen, um bestimmte Dinge
zu verstehen. Ich muss mich nicht dazu aufraffen, nach
Hamburg zu fahren, um in die Oper zu gehen. Und Vorträge könnte ich manchmal sogar selbst halten. Aber die einfachen Dinge des Lebens zu regeln, gut zu sich selbst zu sein,
zu fühlen und nicht nur mit dem Kopf zu arbeiten, fällt mir
oft schwer. Genau das möchte ich nun auf meine alten Tage
ändern!«
Bei »alten Tage« zucke ich unwillkürlich zusammen, denn
für mich ist Bea mit ihren fast sechzig Jahren zwar älter, aber
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dennoch irgendwie zeitlos. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass es sie womöglich eines Tages nicht mehr geben sollte.
So wie meine Eltern. An dieser Stelle bildet sich ein dicker
Kloß in meinem Hals.
»Und weil Vero dir das Kochen beigebracht hat, was ihr
übrigens ausgezeichnet gelungen ist, lernt sie nun im Gegenzug die weite Welt kennen? Auch wenn bereits eine Fahrt
nach Kiel für sie eine ähnliche Herausforderung darstellt,
wie für mich die Aussicht, den Himalaja zu besteigen. Wie
hast du es nur geschafft, sie zu dieser Reise zu überreden?«,
hake ich nach. Dabei bemühe ich mich, den Gedanken zu
verdrängen, Bea könnte eines Tages nicht mehr für mich da
sein.
»Tja«, erwidert meine Tante lächelnd und schenkt uns
Wein nach. »Darauf, dass mir das gelungen ist, bin ich in
der Tat stolz. Ehrlich gesagt, werde ich es aber selbst erst
glauben, wenn es tatsächlich so weit ist. Noch fühlt Vero
sich in Morsum sicher, und am Kachelofen lässt es sich gut
träumen. Aber sie ist wie ich der Meinung, dass wir im letzten Drittel unseres Lebens noch ein bisschen was ausprobieren müssen. Jetzt hoffe ich einfach mal, dass es in ihrem Fall
gut geht. Wenn nicht, kommen wir eben wieder zurück. Es
ist ja nicht so, dass wir auf einer einsamen Insel stranden
werden, von der wir nicht mehr wegkönnen. Es gibt von
überall Flüge zurück – das ist auch das Sicherheitsnetz, mit
dem ich Vero locken konnte. Außerdem sind wir nicht als
Backpacker unterwegs, die morgens nicht wissen, wo sie
abends schlafen werden. So eine Kreuzfahrt ist immerhin
bestens durchorganisiert, und bei dieser Art zu reisen kann
nicht allzu viel passieren.«
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»Aber wärst du nicht furchtbar enttäuscht, wenn ihr trotzdem nach zwei oder drei Wochen schon wieder umkehren
müsstet? Was, wenn Vero auf dem Schiff die Krise bekommt
oder wenn ihr die Ausflugsziele an Land zu exotisch sind?«,
frage ich skeptisch nach. Gleichzeitig genieße ich die Lammkeule mit provenzalischem Gemüse, das so aromatisch ist,
als käme es direkt aus dem Himmel.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortet Bea. »Ich würde es akzeptieren müssen. Ich kenne Vero nun schon sehr lange und
mache mir keine Illusionen darüber, wie sie gestrickt ist.
Das Risiko, dass ihr die Reise womöglich nicht gefällt und
sie Heimweh nach Morsum und ihrer Familie hat, muss ich
eingehen. Ich wäre keine gute Freundin, wenn ich das nicht
verstehen könnte. Ich hätte ja auch die Möglichkeit, alleine
zu reisen oder mit meiner Freundin Iris, der Reisejournalistin aus Hamburg. Aber ich möchte dieses Wagnis nun mal
mit Vero eingehen. Wenn das Experiment scheitert, sind wir
beide um eine Erfahrung reicher, wissen aber dennoch zu jeder Zeit, was wir aneinander haben.«
Beeindruckt von ihren Worten, kaue ich weiter und betrachte meine Tante. Wie toll sie immer noch aussieht, wie
vital, wie klug. Wie gerne wäre ich ein wenig wie sie. So gelassen, in mir ruhend, so voller Vertrauen in mich und das
Leben. Wie wird man nur so?
»Willst du mir vielleicht kurz erzählen, was da mit dir
und Stefan passiert ist?«, fragt Bea und reißt mich aus meinen Gedanken.
Lust habe ich eigentlich keine, aber natürlich bin ich es
meiner Tante schuldig, die ganze Geschichte zu berichten,
immerhin hat sie sich lange genug in Zurückhaltung geübt.
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Vielleicht ist es auch ganz gut, wenn ich mal mit jemandem
über die Trennung spreche, denn bislang habe ich alles mit
mir selbst ausgemacht.
Dann sprudelt es aus mir hervor, als hätte jemand einen
Wasserhahn aufgedreht. Es ist ungemein befreiend, endlich alles aussprechen zu können, was mir seit Wochen auf
der Seele lastet. Ich schildere ihr, wie ich an unserem fünften Jahrestag eine SMS entdeckte, aus der ziemlich eindeutig hervorging, dass Stefan eine Affäre hat. Weiter berichte
ich, dass ich eine Zeitlang versucht war, diese Tatsache zu
ignorieren, und wie sehr ich darunter litt, dass Stefan sich
immer mehr von mir distanzierte, fast nur noch auf dem
Golfplatz oder angeblich mit Freunden unterwegs war.
Zuletzt führten wir nicht einmal mehr richtige Gespräche,
weshalb ich ihn eines Tages zur Rede stellte, weil dieser
Zustand nicht mehr auszuhalten war. Zumindest nicht für
mich.
Ich habe immer schon mehr vom Leben erwartet.
Totale gegenseitige Hingabe und Liebe, die bis ans Lebensende dauert.
So wie bei meinen Eltern.
Da brach Stefan endlich sein Schweigen und beichtete
mir alles. Dass diese Melanie die Frau seines Lebens sei, dass
er noch nie zuvor für eine Frau so empfunden habe und zu
guter Letzt auch noch, dass sie ein Kind von ihm erwarte.
Während ich mir anhörte, was er zu sagen hatte, war ich
eigentümlich ruhig und irgendwie gar nicht verwundert. Im
Grunde wusste ich, dass wir uns unwiederbringlich voneinander entfernt hatten. Aus den einst verschlungenen Pfaden
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waren auf einmal parallel laufende Schienen geworden, die
einander niemals mehr treffen konnten.
Trotz dieser Erkenntnis tat das, was Stefan sagte, mir weh.
Sehr weh sogar. Er selbst wirkte indes erleichtert, endlich
nicht mehr lügen zu müssen, denn im Grunde seines Herzens ist er ein ehrlicher Mensch.
Nachdem er gesagt hatte, was er sagen musste, ging er
»spazieren, um noch ein wenig frische Luft zu schnappen«,
dabei wussten wir beide, dass es ihn zu Melanie zog. Er
wollte so schnell wie möglich bei der Frau seines Herzens
sein. Bei der zukünftigen Mutter seines Kindes.
Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, rollte
ich mich auf dem Sofa zusammen, auf dem ich gesessen
hatte, als meine Welt zum zweiten Mal nach dem Tod meiner Eltern zerbrach, und wartete auf die Tränen, die jedoch
nicht kamen.
Sie kamen weder am nächsten Tag noch an den folgenden.
Im Hotel funktionierte ich wie ein Roboter, wies meine Vertretung ein, die von einer Zeitarbeitsfirma kam und für drei
Monate einsprang, und organisierte nebenbei den Haushalt,
wie ich es immer getan hatte. Stefan schlief ab sofort auf dem
Sofa, und ich fühlte mich unendlich einsam und schrecklich
allein in diesem großen Doppelbett.
Schließlich kam der Tag meiner Abreise nach Sylt, und
Stefan war noch so nett, mich zum Bahnhof zu fahren. Wir
verabschiedeten uns förmlich, ich stieg in den Zug und
blickte nicht zurück. Vermutlich hätte ich sowieso nichts
anderes gesehen, als den Rücken von Stefan, der es eilig
hatte, wieder zu Melanie zu kommen.
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»Und wie geht es dir jetzt damit?«, fragt Bea mitfühlend und
streichelt mir die Hand.
Ich komme jedoch gar nicht dazu, ihr zu antworten, weil
die Türglocke läutet. »Erwartest du jemanden?«, frage ich
und bin ein wenig enttäuscht, nicht weiter mit meiner Tante
allein sein zu können.
»Eigentlich nicht«, antwortet sie und geht an die Eingangstür, um zu öffnen.
»Ach, du bist’s«, höre ich Bea sagen. Ein paar Sekunden
später steht sie zusammen mit einem jungen Mann im
Raum, dem die Störung sichtlich unangenehm ist, als er
merkt, dass wir gerade beim Essen sind.
»Ich wollte nur schnell das Buch zurückbringen«, sagt der
Unbekannte und streckt mir freundlich die Hand zum Gruß
entgegen. »Hallo, ich bin Leon«, stellt er sich vor.
»Lissy Wagner«, antworte ich und mir fällt auf, dass sich
seine Hand angenehm warm und fest anfühlt.
»Leon ist Journalist und arbeitet für den Sylter Tagesspiegel«, erklärt Bea, während wir beide uns eingehend mustern.
Der Besucher ist etwas älter als ich, groß, schlank, dunkelhaarig und macht einen sehr sympathischen Eindruck.
Seine langen Beine stecken in verwaschenen Jeans, unter seinem Parka trägt er einen anthrazitfarbenen Rollkragenpulli.
Die dichten Haare hat er lässig nach hinten gestrichen, und
die zarte Nickelbrille verleiht seinem eher jungenhaften Gesicht einen gewissen intellektuellen Touch.
»Das ist meine Nichte, Larissa Wagner«, fährt Bea fort.
»Lissy wird mich in der Bücherkoje vertreten, wenn ich mit
Vero auf Reisen gehe«, erklärt sie, und ich bemerke, wie
Leons Blick interessiert an mir auf und ab wandert.
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Unwillkürlich nestle ich an meinen Haaren und wippe
mit den Füßen, wie immer, wenn ich nervös bin. Hoffentlich sieht mein Gesicht von der ganzen Heulerei nicht mehr
allzu verquollen aus, denke ich und frage mich gleichzeitig,
weshalb es mir überhaupt wichtig ist, was dieser Mann von
mir denkt.
»Was ist das denn für ein Titel?«, erkundige ich mich mit
einem Blick auf das Buch, das Leon in der Hand hält. Als
Buchhändlerin in spe kann ich ruhig gleich heute damit beginnen, mich in die Materie einzuarbeiten.
»Pu der Bär«, antwortet Leon, offensichtlich ebenfalls leicht
verlegen.
Ich schmunzle. »Mein Lieblingskinderbuch«, sage ich,
nehme ihm das Exemplar aus den Händen und betrachte
gerührt die liebevollen, hauchzarten Illustrationen von E.
H. Shepard.
Auf dem Cover lehnen Pu (der tapsige und verfressene
Bär aus dem Hundertmorgenwald, der nichts anderes als
Honig im Kopf hat), sein Freund Ferkel (ein junges Schwein,
wie der Name schon sagt) und Christopher Robin (der einzige menschliche Protagonist der Geschichte) an einem Brückengeländer und starren völlig versunken in den Bach, der
ihnen zu Füßen liegt und gemütlich vor sich hin plätschert.
Als ich den Innenteil aufschlage, sehe ich mit krakeliger
Kinderschrift geschrieben die Worte:
Dieses Buch gehört Lissy Wagner. Wer so gemein ist,
es auszuleihen und nicht zurückzubringen, ist es nicht
wert, mein Freund zu sein!
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Tatsächlich, dieser Leon hat sich mein persönliches Exemplar von Bea ausgeliehen.
»Lassen Sie mich raten. Sie arbeiten gerade an einem
hochbrisanten Beitrag über die Psychologie des Zusammenlebens von Bären, Ferkeln und Eseln in der Enge des Hundertmorgenwalds«, necke ich den Journalisten.
Der lächelt mich daraufhin erfreut an. »Ich sehe schon,
Sie sind noch immer eine Pu-Expertin«, antwortet er, rückt
seine Brille gerade und mustert mich ernst. »Wenn das so
ist, können Sie sich doch sicher auch noch erinnern, wie Pu
hieß, bevor er beschloss, Winnie der Pu zu sein?«, fragt er
und nimmt nun ebenfalls am Tisch Platz.
Bea hat inzwischen einen weiteren Teller, Besteck sowie
ein Glas geholt. Das bedeutet wohl, dass wir den Rest des
Abends mit diesem Leon verbringen werden.
Mist, wie war das noch?, grüble ich und versuche mich zu
entsinnen, was meine Tante mir immer vorgelesen hat. Pu
der Bär war nämlich eines der ersten Bücher, die bei unserem allabendlichen Vorleseritual fester Bestandteil meiner
kindlichen Traumwelt wurden. Manchmal glaubte ich eine
Art weiblicher Christopher Robin zu sein, dessen Freunde
allesamt Tiere waren, die ich gern mochte. Ich konnte Stunden damit verbringen, mir Geschichten auszudenken, in
denen Elefanten, Giraffen, Zwergkaninchen oder Rehkitze
eine tragende Rolle spielten. Auch wenn ich mit zehn Jahren
schon fast zu alt für solche Phantastereien war.
»Wenn Sie es nicht wissen, halb so schlimm«, erlöst Leon
mich aus meiner Grübelei. »Das Wichtigste ist doch, dass
ich Ihnen das Buch zurückgebracht habe. Denn ich möchte
keinesfalls riskieren, dass Sie böse auf mich sind!«
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»Kinder, wollt ihr euch nicht duzen?«, mischt sich nun
Bea in unser Gespräch ein und hebt energisch ihr Weinglas.
»Ich finde, wir sollten darauf anstoßen, dass ich endlich
meine Weltreise antreten kann, dass Lissy hier ist und hoffentlich die Zeit auf Sylt genießen wird und dass du, Leon,
den Job als stellvertretender Chefredakteur bekommen hast.
Auf eine tolle Zukunft!«, sagt meine Tante und prostet uns
zu. Irre ich mich, oder zwinkert sie mir hinter dem funkelnden Rotwein verschwörerisch zu?
Nachdem Leon und ich auf Du und Du getrunken und
wir uns gegenseitig verschämt ein Küsschen auf die Wangen
gehaucht haben, sind wir auch schon verstrickt in ein Gespräch, das sich um Reisen, Zukunftspläne und Bücher
rankt. Doch sosehr ich mich auch amüsiere und mich an
dem verbalen Schlagabtausch über Bücher erfreue, den Bea
und Leon sich gelegentlich liefern, kann ich nicht umhin,
ab und zu an Stefan zu denken.
Ich war zwar nicht oft mit ihm hier und will auch nicht
behaupten, dass meine Tante und er ein Herz und eine Seele
gewesen wären, dennoch gab es Momente, an die ich mich
gern erinnere.
Zum Beispiel unser erster Aufenthalt hier, als ich Stefan
»mein Sylt« jenseits der bekannten und touristisch frequentierten Ecken gezeigt habe. Das Sylt, das mit dem Promitreiben in Kampen oder in der Sansibar ebenso wenig zu tun
hat wie mit dem Nacktbaden an der Buhne 16, den schicken
Partys im Roten Kliff, dem Schaulaufen in der Sturmhaube
oder auf der Terrasse des Grand Plage.
Es versetzt mir einen kurzen Stich, als ich daran denke,
wie Stefan und ich in der Alten Friesenwirtschaft hier in
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Keitum saßen und zum ersten Mal darüber sprachen, wie es
wohl wäre, wenn wir zusammenwohnten. Oder als wir beim
Strandspaziergang um den »Ellbogen« Pläne für Stefans Praxis schmiedeten. Als wir überlegten, wie wir das Geld dafür
zusammenbekommen könnten. Und schließlich eine Lösung fanden.
Ich habe nicht lange Gelegenheit, meinen trüben Gedanken nachzuhängen, denn Leon fragt mich nach meinen
Lieblingsbüchern. Es stellt sich heraus, dass der Kulturteil
des Tagesspiegels in sein Ressort fällt, und ehe ich es mich
versehe, stecken wir auch schon mitten in einer Diskussion
darüber, ob das Lesen als Freizeitbeschäftigung in dieser von
Hektik und Zeitmangel geprägten Zeit in Zukunft überhaupt noch eine Bedeutung haben wird. Als er sich wundert, dass ich als Hotelkauffrau in Sachen Literatur so bewandert bin, erzähle ich ihm, dass mein Vater Lehrer für
Deutsch und Geschichte war, dass Bücher in unserem Leben immer schon eine große Rolle gespielt haben und die
Liebe zur Literatur bei uns in der Familie liege.
»Er hieß übrigens Eduard Bär«, sage ich, als Leon sich
gegen 24.00 Uhr verabschiedet und in die eiskalte, sternklare Nacht verschwindet.
Ich sehe noch, wie er anerkennend grinst, und schließe
die Tür hinter ihm.

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